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Ergänzung

Spricht mir aus der Seele

manufocus® - Linkservice: Hier gehts zur Internetpräsenz von Martin R. Dean - Foto: Lukas Maeder alle Rechte vorbehalten

Martin R. Dean, geb. 1955 in Menziken (AG) wurde als Sohn eines aus Trinidad stammenden Arztes indischer Herkunft und einer Schweizerin geboren. Nach dem Maturaabschluss studierte er an der Universität Basel Germanistik, Philosophie und Ethnologie. Nach dem Studienabschluss 1986 arbeitete Dean als Schriftsteller, Journalist und Essayist in Basel. Von 1990 bis 1998 unterrichtete er an der Schule für Gestaltung Basel, ab 1999 am Gymnasium Muttenz (BL). Seit 2009 hat Dean auch einen Lehrauftrag am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Martin R. Dean wurde 1994 mit dem Gesamtwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Er lebt zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in Basel.

Quelle wörtlich zitiert aus Annette König, SRF Literatur

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Martin R. Dean – Wikipedia

"Wie aus mir ein Massentourist wurde, der ich nie sein wollte

Früher wurde man sich selber beim Reisen in fremde Länder etwas fremd. Heute sind selbst die fernsten Länder so vertraut wie das allernächste.

Noch immer hoffe ich, auf Reisen verwandelt zu werden. Oder zumindest den zu vergessen, den ich zu kennen glaube. 1974 kam ich als Neunzehnjähriger zum ersten Mal nach Porto, und die euphorische Stimmung der Nelkenrevolution passte wunderbar zu meiner Abenteuerlust. Rund ein Jahrzehnt später nahm ich, zusammen mit dem Schriftsteller Hugo Loetscher und der Autorin und Übersetzerin Monique Laederach, an einem Germanistenkongress in Porto teil.

Noch heute erinnere ich mich sehr gut an Hugos wundersam kluge Ausführungen über Land und Leute. Sie waren wohl deswegen so leidenschaftlich, weil Hugo sich gerade das Rauchen abgewöhnen wollte. Damals war Porto eine etwas düstere, verschlafene Stadt mit Menschen, denen der moderne europäische Lifestyle fernlag.

Ich sehe noch immer die Schaufenster vor mir, in denen Waren, Geräte, Schläuche und Metallteile lagen, deren Zweck ich nicht einmal erahnen konnte und deren Unentzifferbarkeit mir schliesslich zum Mass einer Fremdheit wurde, die mir ein Gefühl der Freiheit verlieh. Es war die Freiheit dessen, der etwas sieht, was ihn nicht schon an etwas anderes zu Hause erinnert.

Heute könnte mir das nicht mehr passieren, denn seit ein paar Jahren wird Portugal von Touristenströmen heimgesucht, die zwar das Bruttosozialprodukt heben, aber dem Land alles Eigene auszutreiben drohen. Mit einem albernen Trick hatten meine Reisebegleitung und ich gehofft, den touristischen Trampelpfaden ausweichen zu können, indem wir nicht in Basel in eine jener Maschinen stiegen, die jeden Morgen um sechs Uhr über unser Schlafzimmer donnern, sondern, ohnehin mit schlechtem ökologischem Gewissen, einen Flug von Zürich aus gewählt hatten.

Aber beim ersten Stadtrundgang, beim Schlendern vom Bahnhof Porto São Bento zum Douro-Ufer hinunter, brach das mit englischen, französischen, spanischen und schweizerischen Zungen daherplappernde Tourismusmonster über uns herein und verleibte sich uns ein. Es hatte, da vor Denkmälern, Konditoreien und Toiletten lange Staus herrschten, leichtes Spiel und liess uns nach zwei Stunden in ein «Starbucks» einkehren, was immer der Anfang vom Ende ist.

Die Sehnsucht nach Duty-free

Belämmert trank ich einen Chai Latte, ein Getränk, das weder europäisch noch portugiesisch ist. Und fragte mich, wo um Himmels willen ich mich eigentlich befand. Ich hatte mich verloren und war mir fremd geworden in einer Art, wie ich es auf früheren Reisen in welche Länder auch immer nie gekannt hatte.

Der Umbau des reisenden Selbst zum «homo touristicus» beginnt am Flughafen. Gürtellose Menschen in Socken taumeln durch die Sicherheitskontrollen und begeben sich schnurstracks in die Duty-free-Zone, wo sie mit euphorischem Gesichtsausdruck Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, als würde «Duty-free» nichts anderes als «ohne Pflicht und Arbeit» heissen, also nichts als reines Vergnügen. Meistens kaufen sie Big Size, denn das neue Europa mag es gross, sowohl was die Schokolade (Toblerone), was Zigaretten (Marlboro) als auch was Alkoholika angeht.

Wir flohen aus Porto nach Obidos, einer schmucken Kleinstadt in Meeresnähe, von deren weiss-blauen Häusern, eingefasst von einer begehbaren Stadtmauer, man uns vorgeschwärmt hatte. Doch innerhalb dieser Stadtmauern, die bis zum Bersten mit Touristen gefüllt waren, schleppte ich mich in der mir mittlerweile vertrauten Erschöpfung und Niedergeschlagenheit an Geschäften entlang, die nur noch Produkte für Touristen feilboten.

War ich wirklich noch in Portugal oder vielleicht in Valencia, in Manchester, in Barcelona oder in Lyon? Wieder fühlte ich mich verloren in einer Welt, die mir in einem Mass vertraut geworden war, die von keiner realen Erfahrung herrührte.

Die Zurüstung der Städte zu Prospekten macht jedes Verwandlungsversprechen zunichte. Statt jenes Ureigene Portugals zu finden, das sich beispielsweise in seiner zurückhaltenden und doch farbigen Gestaltung der Hausfassaden zeigt, wird man von einer Zone in die nächste geschleust: von der Schlafzone in die Fressmeile, von der Kulturzone ins Vergnügungsviertel.

«Happy fucking whatever» steht auf dem T-Shirt eines chinesischen Mädchens zu lesen, das meiner Reisebegleiterin aus einer der Kindereisenbahnen zulächelt, die die Fusslahmen von Zone zu Zone karren. Für die fortschreitende Infantilisierung des «homo touristicus» werden keine Mühen gescheut. Angesprochen wird er vorzugsweise in grosser Kinderschrift, deren sich Airlines wie Hotel- und Nahrungsmittelketten bedienen.

Dieses neue Europa verwandelt die Realität in eine Kuschelzone und die Städte in Themenparks; das einzige Abenteuer besteht allein darin, wie man das alles auf die Dauer erträgt. Es dominiert die Ästhetik des Verpackungsmaterials, mit dem der Tourist stündlich zu kämpfen hat, wenn er die Butter, die Koffer, die Getränke und die Esswaren öffnen will. Denn alle Dinge in diesem neuen Europa kommen von irgendwoher und werden nach irgendwohin verschickt, und natürlich sind auch die Menschen gut verpacktes Frachtgut. Reisen heisst, sich selber zu verpacken.

Verlust der Eigenheit

Portugal ist ein stilles und – wie das Klischee für einmal mit gutem Grund sagt – ein melancholisches Land. Die Azulejos wurden einst zum Schutz der Hauswände gegen die Feuchtigkeit erfunden. Der Portwein, nun in Big-Size-Flaschen verramscht, hat dieselbe Gefühlsfarbe wie der Fado.

Vieles an Portugals Schönheit, die nun wie unter einer Schicht knallbunter Reiseprospekte versteckt liegt, verdankt sich dem Nützlichkeitsdenken. Die Brücken, aber auch die kunstvoll-schlichten Häuser bezeugen noch immer jenes Flair fürs Bauen, das sich die Portugiesen nach der totalen Zerstörung Lissabons 1755 zum schieren Überleben aneignen mussten.

In der Architektur und darum auch in der Gestaltung des öffentlichen Raumes, der Agora, liegt das Gemeinsame der europäischen Staaten. In ihrer Geschichte haben sich Orte herausgebildet, Plätze, Kaffeehäuser und Kulturstätten, wo eine Öffentlichkeit hergestellt wurde und die Sache der Demokratie verhandelt werden konnte. Solche Eigenheiten gehen jedoch allmählich verloren, da sich die Innenstädte angleichen und austauschbar werden.

Der binneneuropäische Tourismus mit seinem Weekend-Flugverkehr droht dieses Erbe zu zerstören. Im neuen Europa, in das beispielsweise gewisse Apfelsorten Portugals nicht exportiert werden dürfen, weil sie zu klein sind, verwandelt der Massentourismus Städte in Nicht-Orte. Hier trifft sich keiner mehr zum Austausch mit anderen, hier wird bloss noch mit einem Selfie festgehalten, dass man da gewesen ist.

Die Städte und Länder beugen sich den Bedürfnissen der Massen und vernachlässigen immer mehr, was ihre Besonderheit und damit auch ihre Sperrigkeit ausmacht. So vernichtet der Massentourismus zugleich die Geschichte, die er zu suchen vorgibt. Denn jede Stadt hat einen eigenen Geruch und ein eigenes Licht. Sie ist wie ein Blätterteig und besteht aus vielen übereinandergelegten Schichten, deren Freilegung nur dem geduldigen und passionierten Blick gelingt.

Eine europäische Stadt zu besuchen, heisst immer auch, durch die Jahrhunderte zu wandern und das urbane Gebilde als Gewordenes zu erleben. Darin besteht ihr Reichtum, der nichts mit dem auf ökonomischen Ertrag angelegten Verkehr zu tun hat, wie er jetzt zwischen Tourist und Einheimischen herrscht.

Nur ist den Reisenden das Bedürfnis nach Authentischem nie ganz auszutreiben. Statt sich den grossen Tourismuskonzernen mit ihren vorgestanzten Touren anzuvertrauen, können sie sich in Portugal nun einer Agentur für Individualisten überlassen. Eine davon hat den Namen «We hate Tourism Tours». Ihr Slogan: «We want to share our city with you by actually living it.» Ist das ein Ausweg und ein Versprechen? Oder nicht doch vielmehr einfach der Anfang vom Ende der Vielfalt?

Dem Touristen wird die Vielfalt der Städte nicht einfach vorenthalten, er trägt ja selber zu ihrem Verlust bei, indem er reist. Dabei wird der Reisende zu jener paradoxen Figur der westlichen Moderne, die genau das befördert, was sie verhindern will; sie bringt zum Verschwinden, was sie eigentlich entdecken wollte."

Quelle wörtlich zitiert aus Neue Zürcher Zeitung, 21.10.2019 © Martin R. Dean